Sie zögert und zaudert, tut nicht das, was längst notwendig gewesen wäre: Viel Kritik ist in den vergangenen Wochen über die Europäische Zentralbank (EZB) niedergeprasselt. Tenor: Die Notenbanker in Frankfurt haben den richtigen Moment für eine Wende in ihrer lockeren Geldpolitik verpasst. Während die Zentralbank in den USA die Leitzinsen bereits angehoben hat, tat die EZB dies nicht.

Angesichts einer Inflation von 8,1 Prozent im Euroraum sind es nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen wiedie Bild-Zeitung, die selbsternannte Anwältin der deutschen Sparer, die nach höheren Zinsen rufen. Auch kluge Ökonominnen und Ökonomen wie der Chef des Forschungsinstituts Wifo, Gabriel Felbermayr, fordern, dass die EZB aggressiver gegen Inflation vorgeht. Aus ihrer Sicht bleibt das Tempo weiter zu niedrig. Auch am Donnerstag verkündete EZB-Chefin Christine Lagarde keine Zinsanhebung, die kommt erst im Juli – bloß die Ankäufe von Staatsanleihen werden zurückgefahren.

Vorsicht ist das Gebot der Stunde

Aber viele Argumente sprechen dafür, dass diese vorsichtige Vorgangsweise richtig ist. Die EZB steckt in mehreren Dilemmata: Auf der einen Seite ist unbestritten, dass die Inflation so weit weg von ihrem Zielwert von zwei Prozent liegt, dass gehandelt werden muss. Nichts tun ist keine Option; dafür bereiten die stark steigenden Preise inzwischen Menschen wie Unternehmen zu viele Probleme. Die EZB kann jedoch nur indirekt versuchen, die Inflation zu beeinflussen. Sie kann eben den Preis für Geld, den Zins, anheben. Damit wird die Kreditaufnahme für Unternehmen und Haushalte teurer, die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen geht zurück. Das dämpft die Preise.

EZB-Chefin Christine Lagarde stehen heikle Entscheidungen bevor.
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Doch die Wirkung solcher Schritte ist aktuell begrenzt. Denn die Preistreiber sind derzeit Energie und zunehmend Lebensmittel. Ohne sie würde die Inflation bei 3,8 Prozent liegen. Lagarde hat keine Getreidesilos oder Gasspeicher, aus denen sie Bestände verkaufen kann, um die Energie- und Lebensmittelpreise zu senken. Ein Worst-Case-Szenario wäre: Die EZB verkündet drastische Zinsschritte, würgt die Wirtschaft ab, ohne die Inflation nennenswert zu bremsen. Das unterscheidet Europa von den USA: Dort ist der Preisanstieg breiter und nicht so stark auf Energiepreise zurückzuführen.

Ein Balanceakt in der Eurozone

Das zweite Dilemma ist noch heikler. Innerhalb der Eurozone herrscht eine Kluft zwischen Ländern wie Deutschland oder Österreich, die als verlässliche Schuldner wahrgenommen werden, und angeblich verschwenderischen Südländern wie Italien und Griechenland. An diesen Zuschreibungen ist vieles falsch. Richtig ist aber, dass besonders Italien mit einer Schuldenlast von 150 Prozent der Wirtschaftsleistung ein sensibler Fall ist: Die Regierung in Rom kann diesen Schuldenberg nur managen, wenn die Zinsen nicht zu schnell und stark steigen und das Wachstum nicht wegbricht.

Die EZB hat kein Mandat, für einzelne Staaten niedrige Zinsen zu garantieren. Aber wenn sie zu aggressiv einschreitet und die Zinsen in Italien stark steigen, würden dort Staat und Wirtschaft leiden. Die Folge wäre eine neue Eurokrise inklusive neuer Spekulationen über einen möglichen Zerfall der Währungsunion. Das zu verhindern ist sehr wohl Aufgabe der Zentralbanken.

Was folgt daraus? Will die EZB die delikate Balance wahren, tut sie gut daran, zu handeln – aber langsamer, als vielen ihrer Kritiker lieb ist. Das bringt ihr keinen Applaus, sorgt aber für Stabilität. (András Szigetvari, 9.6.2022)